| Aktuelle Meldung

Weihnachtspredigt von Erzbischof Robert Zollitsch im Freiburger Münster

„Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“ Das Kind in der Krippe befreit uns vom Leistungsdruck

Lesungen: Jes 52, 7-10 Hebr 1,1–6
Evangelium: Joh 1,1–18

Liebe Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens,

„das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt“ (Joh 1,9). Mit dieser Aussage, die wir soeben im Evangelium gehört haben, führt uns der Evangelist Johannes zum Kern des Weihnachtsfestes. Dieser Glanz, der vom Kind in der Krippe ausgeht, strahlt in die Welt hinaus. Er will die Herzen aller Menschen erreichen. Und wir, die wir heute dieses großartige Geheimnis feiern, dürfen diesen Glanz in unserem Freiburger Münster selbst spüren; ja, auch von unserem Münster aus strahlt das Licht hinaus in die Welt! Nicht nur wegen der neuen Beleuchtung; nicht nur, weil das beeindruckende Böcklinkreuz wieder an seinen alten Platz hinter den Chorbogen zurückgekehrt ist und uns daran erinnert, wie schon vor vielen hundert Jahren unsere Vorfahren den Glauben gelebt haben; gerade jetzt an Weihnachten freuen wir uns, dass wir neben der herrlichen Krippe auch wieder den Dreikönigsaltar in unserer Mitte haben. An diesen künstlerischen Darstellungen, an der Krippe, die bei weitem nicht nur die Kinder bewundern, an den Christbäumen, die unsere Wohnungen und hier das Münster schmücken und die wir mit Lichterketten versehen, können wir erahnen, was es heißt, dass in Jesus Christus das Licht in die Welt gekommen ist. Wir brauchen dieses Licht Christi, wir benötigen seine Ausstrahlung, die wir uns nicht selbst machen können. Und so sehr wir unsere Häuser und Kirchen auch schmücken, damit dieses Licht der Heiligen Nacht lebendig wird und weiter strahlt: Es reicht nicht aus, einfach nur den Schalter umzulegen und darauf zu warten, dass das wahre Licht erstrahlt, das jeden Menschen erleuchtet.

Denn es ist ein Licht, das von innen ausstrahlt, das nicht mit dem ersten Windstoß ausgeblasen wird oder beim Stromausfall erlischt. Wir brauchen gar nichts dafür zu tun, dieses Licht ist da. Es ist zu uns gekommen, uns von außen gegeben. Es ist Geschenk. Es ist Gott selbst, der in unsere Welt gekommen ist, mitten unter uns Menschen sein will. Ja, das ist die ausstrahlende, Licht und Leben bringende Botschaft des Weihnachtsfestes: Gott kommt uns entgegen! Er selbst ist das Licht; er selbst ist es, der auf uns Menschen zugeht, der seine Liebe zu uns Menschen nicht an Bedingungen knüpft. So fordert uns der Prophet Jesaja zurecht auf: „Brecht in Jubel aus, jauchzt alle zusammen!“ (Jes 52,9) Denn das, was wir uns selbst nicht machen können, das hat uns Gott gegeben: Es ist die Zusage, dass unser Leben einen Sinn erfährt; dass wir in unseren Dunkelheiten nicht auf uns gestellt sind; dass Gott uns begleitet und stärkt; er für uns da ist. Der große Freiburger Theologe Karl Rahner hat dies in seiner Tiefe formuliert: „Wenn wir sagen: Es ist Weihnacht, dann sagen wir: Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort im fleischgewordenen Wort in die Welt hinein gesagt, ein Wort, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst in der Welt ist. Und dieses Wort heißt: Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“(1)

Unfassbar ist dieses Ereignis. In Jesus Christus, dem Kind in der Krippe begegnet uns ein entgegenkommender Gott, der nicht auf seiner Größe beharrt und erwartet, dass wir uns ihm ängstlich und untertänig nähern. Er thront nicht in weiter Ferne, sondern begibt sich mitten in unsere Welt herein, kommt uns Menschen entgegen. Unser Gott kommt nicht mit Macht und Gewalt, die keinen Widerspruch duldet. Er erniedrigt sich selbst, macht sich klein und zerbrechlich, zeigt gerade darin seine Größe.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das ist es, was fasziniert, was uns in den Bann zieht. Und doch ist dies zugleich auch das, was allzu oft schwer verständlich bleibt: „Die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,10 f). So bleibt es schroff und beinahe etwas unverständlich im Johannes-Evangelium stehen. Und man möchte fragen: Warum nehmen wir Menschen diesen liebenden Gott nicht in unser Herz, in unser Leben auf? Warum erkennen wir allzu oft nicht das Licht, das von ihm ausstrahlt? Was ist der Grund dafür, dass wir lieber in der Dunkelheit bleiben?

Eine Antwort könnte sein: weil wir mit anderen Maßstäben rechnen, als Gott dies tut. Das Zerbrechliche und Schwache, das am Rande Stehende und Unscheinbare – es zählt nicht in unserer Gesellschaft, in der es um Leistung und Erfolg geht, in der sich die Stärkeren durchsetzen. „Man muss härter sein als ich“, bekannte etwa der ehemalige Fußballstar Sebastian Deisler freimütig auf die Frage, weshalb er sich im Profifußball nicht durchgesetzt habe. Es scheinen in der Tat die Harten und Abgeklärten zu sein, die unsere Welt und unseren Alltag bestimmen. Und wir üben das auch früh ein: Wir leben in einer Gesellschaft, die schon für die Kinder und Jugendliche einen ungeheuren Druck aufbaut. Ohne auf die höhere Schule zu kommen, ohne gute Schulnoten, so bekommen es schon unsere Jüngsten mit, kann es keine gute Perspektive fürs Leben geben, wirst du ein Versager. Und diesen Druck, der allzu oft von außen an uns heran getragen wird, nehmen wir auf unserem Lebensweg weiter mit. Es ist der Druck, dass nur derjenige angesehen ist, der in seinem Beruf Überdurchschnittliches leistet und dessen Verdienst entsprechend hoch ist. Der Druck, dass ich auch im höheren Alter noch jugendlich und sportlich aussehen muss, um nicht zum alten Eisen zu gehören. Immer mehr Menschen, junge und alte, nehmen Psychopharmaka, um diesem Druck Stand zu halten. Immer öfter werden bei Kindern schon Aufmerksamkeitsstörungen diagnostiziert und mit zahlreichen Medikamenten zu bekämpfen versucht. Wo ist die Weisheit geblieben, dass wir Menschen Ruhe und Stille brauchen? Wo ist das Gefühl, dass ein gutes und erfüllendes Familienleben mehr bedeutet als ein gut gefülltes Portemonnaie? Wo ist das Wissen darum, dass es notwendig ist, auch die Schwachen zu tragen und zu stützen?

Ja, es ist ein vielfältiger Druck, unter dem Etliche leiden oder gar nicht mehr weiter wissen. Es ist ein Druck, der vor allem das übersieht, was uns das Weihnachtsfest sagt: „Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“ Eine Liebe, die nicht deshalb gilt, weil wir eine entsprechende Leistung erbracht haben. Es ist eine Liebe, die Gott uns bedingungslos schenkt. Gott wird Mensch, um uns Menschen zu zeigen, was unsere allererste und ureigenste Aufgabe ist: Zu lieben, füreinander da zu sein! Ohne Hintergedanken und Vorbedingung – ohne Profit und Vorteil.

Das hilfsbedürftige Kind in der Krippe ist auf die Liebe und Zuwendung seiner Eltern angewiesen. Und doch ist es gerade in dieser Schwäche stark. Obwohl es keine Armee hat, die für es streiten wird – jetzt bei der Geburt und später bei der Verhaftung –, kommen die Hirten und fallen vor dem Kind auf die Knie; gehen die Weisen aus dem Morgenland hunderte Kilometer, um diesem Kind zu huldigen. Und sie erfahren dabei: Nicht von den Palästen und Villen, von denen die in der Gesellschaft etwas leisten und gelten, geht die wirkliche Macht aus, sondern von diesem Kind, das nichts weiter tut, als aus der Liebe zu leben. Die Welt wird menschlicher, dadurch dass Gott Mensch wird. Das ist das Licht, das in der Finsternis leuchtet, das ist die Hoffnung, die in dieser Geburt gesetzt wird. Dass ich unabhängig von dem, was ich leisten und erbringen kann, unendlich von Gott geliebt bin. Das Weihnachtsfest führt uns vor Augen, dass wir unseren Wert nicht aus unserer Leistung, unserem Aussehen und unserem Ansehen haben, sondern der Wert eines jeden Menschen in seiner Existenz begründet ist. Die Würde eines jeden und einer jeden Einzelnen können wir nicht selbst herstellen, sie wird uns von Gott geschenkt. Welch gravierende und schreckliche Auswirkungen hätte es, wenn die Wertschätzung eines jeden Menschen nur durch das bestimmt wäre, was er zu leisten im Stande ist! Wir hätten dann keinen Platz mehr für alte und schwache Menschen, die nicht mehr produktiv werden können; wir hätten keinen Blick mehr für Kranke und Behinderte – sie blieben links liegen.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wir sehen, wie angefochten diese Menschenwürde dort ist, wo Entscheidungsträger nur an sich denken und sich nicht ihrem Glauben vor Gott, sondern lediglich ihrem eigenen Profit verantwortlich wissen; wie die Menschenwürde deshalb immer wieder neu verteidigt werden muss! Denn wir Menschen sind kein Rädchen im Getriebe, bei dem man die Stellschrauben weiter anziehen kann, damit alles noch besser und reibungsloser funktioniert. Wir sind vor allem auf Beziehung angelegt, darauf, dass wir mit Gott und miteinander in Kontakt treten und füreinander einstehen! Denn das Geschenk der Würde, das uns von Gott gegeben ist, haben wir nicht nur für uns selbst bekommen. Wir haben es auch erhalten, um im anderen, in den Menschen, die uns begegnen, diese Würde zu entdecken und gemeinsam mit Gott zu sprechen: „Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das Licht, das in die Welt gekommen ist, Jesus Christus, will uns dazu ermuntern, an seiner Flamme auch unser Licht anzuzünden und in die Finsternis hinauszutragen. Die Sehnsucht nach der Wärme der Solidarität und dem Licht der Hoffnung ist auch in unseren Tagen da; wir spüren sie, wenn wir offen dafür und dazu bereit sind, auch in unseren Herzen! Wir dürfen diese unendliche Sehnsucht mit der Kraft stillen, die nur der Unendliche, die nur Gott uns geben kann und die er uns in seiner Menschwerdung anbietet. Nicht dass ich immer mehr habe und leiste, sondern, was ich in den Augen Gottes gelte, zählt. Und weil wir darum wissen, dass wir von ihm her Stärke und die Erfüllung unserer Sehnsucht erhalten, sind wir eingeladen, dies weiter zu geben. Zum einen in der Dankbarkeit Gott gegenüber; indem wir – wie die Hirten oder die Weisen aus dem Morgenland – anbetend auf die Knie fallen und unsere Gaben dem Kind in der Krippe bringen. Dann aber vor allem, indem wir uns darum mühen, in den Menschen, die uns begegnen, die Würde zu sehen und anzuerkennen, die Gott in sie hinein gelegt hat – fernab von Leistungsvermögen, Ansehen und Position des anderen. Weihnachten lässt uns entdecken, wofür zu leben sich lohnt, wo unser Einsatz gefragt ist. Das Kind in der Krippe fragt nach unserer Liebe, nach unserem Licht, das wir in der Dunkelheit unserer Tage anzünden und weiterreichen. Gehen wir in dieser Gewissheit in unseren Alltag hinein; lassen wir uns wieder neu ermutigen, indem wir dem Kind in der Krippe vertrauen: Gott kommt auf uns zu, er liebt uns zuerst. Wir dürfen seine Liebe erwidern und weiter tragen. Dann wird die Finsternis, die uns allzu oft umgibt, vom Glanz und vom Licht erhellt, das nicht erlischt, das Licht, das die Würde des Nächsten achtet und aus Liebe handelt. Zeigen wir der Welt dieses Licht, damit sie nicht zerbrechen muss. Denn wir alle sind von Gottes Hand getragen. Er ist bei uns.

(1) Karl Rahner, Das große Kirchenjahr. Geistliche Texte, Freiburg i. Br. 1987