| Pressemeldung | Nr. 091

Bibelarbeit des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, beim 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag

am 10. Juni 2023, in St. Sebald zu Nürnberg


Schriftwort: Lk 17,20–25 (Die Zeit wird kommen)

1.    Hier und jetzt, in Raum und Zeit

Herzlich willkommen zur Bibelarbeit in Sankt Sebald am Samstagmorgen! Dass Sie heute Morgen hier sind, darüber freue ich mich, und dass wir hier zusammengefunden haben, liegt daran, dass Sie sich heute auf den Weg gemacht haben und dafür zwei wichtige Informationen zur Verfügung hatten: eine Angabe zum Ort – Sankt Sebald in der Winklerstraße 26 hier in Nürnberg, vielleicht auch mit einer Erklärung, wie Sie gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln hierher kommen – und eine Angabe zur Zeit, 9:30 bis 10:30 Uhr, Dauer: eine Stunde.

Und hier in der Kirche nehmen Sie alle selbst auch noch einen ganz speziellen Ort ein, den niemand sonst gleichzeitig innehaben kann. Mit diesen beiden Angaben zum Raum und zur Zeit lassen sich Menschen, Dinge und Ereignisse in unserer Wahrnehmung und Geschichte verorten und einander mitteilen. Raum mit den drei Dimensionen von Länge, Breite und Tiefe und dazu die vierte Dimension, die Zeit – das macht zusammen unsere sogenannte Raumzeit aus. Und beides nehmen wir immer wieder ganz unterschiedlich wahr. Natürlicherweise ist uns wohl eher der Raum in der Wahrnehmung gegeben; bei der Zeit brauchen wir manchmal Hilfe, wieviel Uhr es denn eigentlich gerade ist, wieviel Zeit vergangen ist zwischen zwei Punkten des Erlebens. Die Physik kennt noch viele weitere Dimensionen, und mit der Relativitätstheorie wird es dann noch komplexer, denn „sie unterscheidet im Grunde nicht zwischen Raum- und Zeitkoordinaten, wie es in ihr auch keinen wirklichen Unterschied zwischen zwei beliebigen Raumkoordinaten gibt“. (Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 38) Aber klar ist: Im Alltag prägt die Raumzeit unsere Wahrnehmung und unser Leben, sie ist gemeinsamer Orientierungsrahmen.
 

2.    Wann? Wo? Lukas 17,20–25

Auch in unserer heutigen Bibelstelle werden Fragen nach Raum und Zeit gestellt: Wann kommt das Reich Gottes? Wo ist es, wo ist es nicht? Hören wir zunächst die Stelle in zwei Übersetzungen.

Einheitsübersetzung 2016

20 Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. 21 Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. 22 Er sagte zu den Jüngern: Es werden Tage kommen, in denen ihr euch danach sehnt, auch nur einen von den Tagen des Menschensohnes zu sehen; doch ihr werdet ihn nicht sehen. 23 Und man wird zu euch sagen: Siehe, dort ist er! Siehe, hier ist er! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! 24 Denn wie der Blitz von einem Ende des Himmels bis zum andern leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag erscheinen. 25 Vorher aber muss er vieles erleiden und von dieser Generation verworfen werden.

Übersetzung in Leichte Sprache für den Kirchentag Nürnberg 2023

Kluge Menschen fragen Jesus:
Wann kommt das Reich von Gott?
Wann beherrscht Gott die Welt?

Jesus sagt:
Ihr fragt das Falsche.
Ihr denkt an einen Ort.
Oder an eine bestimmte Zeit.
Aber: Das Reich von Gott ist anders.
Das Reich von Gott ist in eurer Mitte.

Ihr seid schon ein Teil vom Reich von Gott.

Dann spricht Jesus zu seinen Schülern.
Das sind Männer und Frauen.

Jesus sagt:
Auch ihr wartet: Gott soll herrschen.
Versucht es zu verstehen …
Es kommt ein Mensch: Auf ihn hoffen alle.
Alle warten auf ihn.
Mit ihm kommt das Reich von Gott.
Jetzt denkt auch ihr an einen Ort.
Und an eine bestimmte Zeit.

Ich sage Euch:
Dieser Mensch kommt wie ein Blitz.
Plötzlich wie ein Blitz. Hell wie ein Blitz.
Alle werden es sehen.
Und: Dieser Mensch wird leiden.
 

2.1.    Einordnung der Bibelstelle

Unser Textausschnitt stammt aus der ersten apokalyptischen Rede des Evangelisten Lukas, die er zwischen einer Wundererzählung, nämlich der von den zehn Aussätzigen, und einer Parabel von der Witwe und dem ungerechten Richter einordnet. Die Stelle an sich geht dann noch ein paar Verse weiter – von Lukas 17,20 bis dann zum Vers 37. Inhaltlich finden sich Teile dieser Perikope auch bei Markus im Kapitel 13, doch hat Lukas hier noch eine eigene Quelle verwendet und den Text neu konstruiert.

Der Abschnitt beginnt mit einer Frage der Pharisäer an Jesus, wann denn das Reich Gottes kommt, oder, wie es die Übersetzung für den Kirchentag interpretiert: die gerechte Welt. Jesus antwortet darauf mit zwei negativen Aussagen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es!“ (Lk 17,20–21a).

Und dann in Vers 21b eine Aussage zum Reich Gottes, aber nicht wann, sondern wo es ist: „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ („in euch/unter euch“ entos hymon). Die Exegese geht von einem authentischen Jesuswort aus, das Lukas hier in die Mitte stellt. Auf diese Aussage schauen wir gleich etwas genauer.

Der zweite Teil der Bibelstelle ist dann eine Antwort Jesu an die Jünger zu den Zeichen des Kommens des Menschensohns. Auch hier findet sich wieder in negativer Beschreibung, was das Kommen des Menschensohnes alles nicht ist, die Warnung, nicht auf andere zu hören, dass er wie ein Blitz kommt und zuvor viel erleiden muss.
 

2.2.    Die damalige Situation und Zeit

In welche Zeit und welchen Raum hinein schreibt der Evangelist eigentlich? Der Evangelist Lukas schreibt ca. 80–90 n. Chr., also einige Jahrzehnte nach dem Leben und dem Tod Jesu. 70 n. Chr. wurde der Jerusalemer Tempel zerstört und an dessen Stelle ein römisches Legionslager errichtet. Die Hoffnung, dass Jesus Christus als Messias eine Wende bringt und eine neue Zeit begonnen hat, wird von großen Zweifeln getrübt. Wie kann es sein, dass das alles geschieht, aber doch die neue Zeit angebrochen ist? Wann kommt denn der Menschensohn, um alle zu richten? Denn die messianische Vorstellung beinhaltete eine himmlische Königsherrschaft, die sich irdisch durchsetzt.

Die Bibelstelle nimmt somit das Leiden in zweifacher Weise auf. Auf das Leben Jesu hin geht es um die Frage nach seinem persönlichen Leiden und Sterben, wie es mit ihm als Messias zu vereinbaren ist. Wir kennen dies aus dem Gespräch der Emmaus-Jünger. Und sie nimmt die Situation der Christen und Christinnen am Ende des 1. Jahrhunderts auf. Wo ist denn nun das Reich Gottes?

Die Naherwartung der Urkirche, so stellen wir fest, wurde geschichtlich verstanden; Jesus hatte doch von seinem Wiederkommen gesprochen. Hans Urs von Balthasar beschreibt dies so: „Das Missverständnis war naheliegend, war vielleicht unvermeidbar: die Unmittelbarkeit Jesu zum Vater, zur Ankunft des Reiches, zur absoluten Zeitgrenze, die durch Kreuz und Auferstehung bestimmt wird, zu verwechseln mit einer chronologischen Unmittelbarkeit, die dann den endzeitlichen Enthusiasmus der Urkirche erzeugte und anschließend daran die durch die Kirchengeschichte immer neu aufflackernden […] Bewegungen, die ein sogenanntes ‚Ende der Welt‘ als bevorstehend und anstehend verkünden und erwarten.“ (Balthasar, Zuerst Gottes Reich, 55 f.)

Die sogenannte Parusie-Verzögerung, also, dass die Wiederkunft Christi sich verzögerte, war für die Theologie und den Glauben der Urkirche eine große Herausforderung. Und das erfahrene Leid in der eigenen Geschichte machte diese Frage nur umso drängender, wo denn nun das Reich Gottes sei. So heißt es in unserem Text: „Es werden Tage kommen, in denen ihr euch danach sehnt, auch nur einen von den Tagen des Menschensohnes zu sehen; doch ihr werdet ihn nicht sehen.“ (Lk 17,22)

In diese Erfahrung hinein hören wir das Jesus-Wort: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“
 

2.3.    Entos hymon (mitten unter euch)

Diese besondere Einfügung bei Lukas bildet die zentrale Aussage dieses Textabschnitts, und er hat sie kreativ in andere Aussagen verwoben. Wie aber soll man genau übersetzen? Darüber haben viele Exegeten und Exegetinnen nachgedacht und auch gestritten:

1.) „Innerhalb“ – Dies ist eine gängige Übersetzung. Martin Luther hat übersetzt: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Vom Griechischen ist das möglich, und im Text wird das Innere dem Äußeren gegenübergestellt, das, was offensichtlich ist und beobachtbar, dem, was unsichtbar bleibt. Im Fokus ist dann eine subjektive Innerlichkeit im Herzen. Aber ist das sinnvoll, wenn hier ja die Pharisäer angesprochen werden? Und: An anderen Stellen wird das Reich Gottes ja gut sichtbar beschrieben, wenn „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein“ (vgl. Lk 7,22). Es gibt noch eine Möglichkeit von der Grammatik her, nämlich:

2.) „Zur Verfügung von“/„in euren Händen“ – Das wäre unüblich von der Verwendung bei Lukas, ist aber in anderen, antiken Quellen (Papyri) belegt und wurde auch in älteren Interpretationen so gesehen, so z. B. bei Tertullian. Das würde bedeuten, dass das Reich Gottes schon längst zur Verfügung steht, man nur dorthin umkehren müsse. Oder aber:

3.) „Unter euch, bei euch, zwischen euch“ im Sinne von „in jedem von euch“ als Gemeinschaft gedacht. Damit würde die subjektive Deutung einer intersubjektiven weichen. Das Reich Gottes ist etwas, das sich zwischen den Menschen ereignet, in einem Beziehungsgefüge, „konkret in Form von Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit, Frieden, Liebe, Güte etc.“ (Böttigheimer, Die Reich-Gottes-Botschaft Jesu, 54). So übersetzt heute die Mehrzahl der Bibelausgaben. „Die Aussage, dass Gott inmitten seines Volkes wohnt, ist jedenfalls gut biblisch. Vgl. etwa Ex 17,7 oder Zef 3,15.“ (Lohfink, Die wichtigsten Worte Jesu, 307) Auch die Übersetzung für den Kirchentag hat diese Form gewählt: „Denn hier, Gottes gerechte Welt ist schon da, indem ihr zusammen seid.“

Unabhängig von der Wahl der Übersetzung: Lukas wendet sich hier klar gegen all jene Versuche, das Reich Gottes berechnen zu wollen, Zeichen zu deuten und dann eindeutige Aussagen zu Ort und Zeit zu geben, wie es in der Apokalyptik durchaus üblich war. Der Grund ist einfach: Denn das Reich Gottes ist schon mitten unter euch. Es geht bei allen Übersetzungen um eine Beschreibung dessen, was ist (also um Gegenwart) und uns gegeben ist, nicht um etwas Fernes, Späteres.

„Das Reich von Gott ist in eurer Mitte. Ihr seid schon ein Teil vom Reich von Gott.“ So ist es in der leichten Sprache übersetzt.

Zwei Fragen stellen sich zwangsläufig und folgen dann ja in der Bibelstelle: Wie ist das Verhältnis von Reich Gottes und Jesus Christus zu sehen und wie ist das Leiden einzuordnen?
 

2.4.    Gottesreich (basileia tou theou) und Leiden

Das Reich Gottes ist untrennbar mit Jesus Christus verbunden. Mit ihm hat es begonnen, er verkündet und lebt es, in ihm wird es vollendet sein. So gibt es einen Beginn, nämlich in Jesus Christus und seinem irdischen Leben, und von da aus entfaltet sich dann eine eigene Wirklichkeit, zu der wir uns verhalten können. Der Ruf der Umkehr und Bekehrung gehört daher ebenso zur Reich-Gottes-Verkündigung wie die Bilder des natürlichen Wachstums in vielen Gleichnissen. „Die Zeit ist erfüllt“, so verkündet es Jesus, „das Reich Gottes ist nahe, kehrt um und glaubt an das Evanglium“ (Mk 1,15). Wörtlich findet sich bei Lukas die „basileia tou theou“ – die Königsherrschaft, was heute nicht mehr selbsterklärend ist. Vielleicht trifft es der Begriff „Gottesherrschaft“ noch besser als „Reich Gottes“, was uns aber viel vertrauter ist (vgl. Vaterunser), da dann gar nicht so sehr ein eigener Raum aufgemacht wird, sondern eher ein dynamisches Geschehen gemeint ist (vgl. Lohfink, Die wichtigsten Worte Jesu, 23).

Nur vor der prophetischen Hoffnung, wie wir sie z. B. im Jesaja-Buch finden, ist vieles zu verstehen, was Jesus vom Reich Gottes sagt: „Das Reich Gottes, das Jesus proklamiert, kommt nicht nur in den Herzen. Es ist das Kommen der Macht und der Herrlichkeit Gottes – und diese Herrlichkeit will alles verändern. Dinge finden ihre Identität, Verhältnisse kommen in Ordnung, Schuldig Gewordene kehren um, Chaos verwandelt sich in Schönheit, Kranke werden gesund, Blinde sehen, und Stumme fangen wieder an zu reden.“ (Lohfink, Ausgespannt zwischen Himmel und Erde, 333 f.)

Insofern ist es eine andere Realität, die nicht einfach im Zeitenlauf zu verstehen ist; es geht um eine ganz eigene Dimension in Gott. Und das Reich Gottes ist kein Automatismus, keine natürliche geschichtliche Entwicklung im Sinne eines automatisierten Fortschritts, denn es gibt auch weiterhin Leid in der Welt.

Und das macht Lukas an dieser Stelle auch deutlich: Die Sehnsucht, dass es nicht immer so ist, wie es uns verheißen ist. Die Warnung, nicht einfachen Antworten hinterherzulaufen. Die Ankündigung, dass Jesus uns überraschen wird und dass er selbst gelitten hat. Mitten in diese Situationen von Leid, Verzweiflung, Unrecht fällt die Frohe Botschaft.
 

3.    „Schon und noch nicht“ – morgen, gestern, heute

Wie aber ist die Gottesherrschaft mitten unter uns? Wie kann Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi heute unsere Zeit erhellen? Vergangenes liegt zurück, Künftiges steht noch aus, und letztlich erleben und gestalten wir einzig die Gegenwart: So jedenfalls legt es uns das gängige Zeitempfinden nahe. Je älter ich werde und je mehr Lebenserfahrung ich sammeln darf, umso mehr zweifle ich, dass unser Leben – zumal ein gläubiges Leben – als eine simple Abfolge auf einem gerichteten Zeitstrahl zutreffend be¬schrieben werden kann. Und kürzlich stieß ich in einem Roman (Paolo Cognetti, Acht Berge. Roman. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt, München 2017) auf ein Bild, das weiterhelfen könnte: Während der junge Pietro mit seinem Vater die Berge des Aostatals erwandert, gibt der seinem Sohn oft Rätsel auf, um seine Intelligenz zu trainieren. „‚Schau dir diesen Bach an. Siehst du ihn?‘, fragte er. ‚Angenommen, das Wasser ist die vergehende Zeit. Wenn dort, wo wir stehen, die Gegenwart ist, wo ist dann deiner Meinung nach die Zukunft?‘ Ich überlegte. Das schien nicht weiter schwer zu sein, und ich gab die nächstliegende Antwort: ‚Zukunft ist dort, wo das Wasser hinfließt, also da unten.‘ ‚Falsch‘, sagte mein Vater. ‚Zum Glück!‘“ (23) Um seinen Sohn weiter zum Denken anzuregen, löst er das Rätsel nicht auf. Einige Zeit später durchstreift Pietro mit einem Freund die Gegend, und sie kommen an einen Gebirgsbach, der nach einem Wasserfall einen Teich formt, in dem sich Forellen tummeln. „Langsam dämmerte mir etwas, nämlich dass für einen Fisch alles vom Berg kommt: Insekten, Zweige, Blätter, einfach alles. Deshalb schaut er nach oben, in Erwartung dessen, was da kommt. Wenn der Punkt, an dem man in einen Fluss eintaucht, die Gegenwart ist, so dachte ich mir, ist die Vergangenheit das Wasser, das einen überholt hat und in die Tiefe fließt, wo einen nichts mehr erwartet. Und die Zukunft das Wasser, das von oben kommt und Gefahren mit sich bringt, aber auch Überraschungen. Die Vergangenheit ist das Tal und die Zukunft der Berg. So hätte ich die Frage meines Vaters beantworten müssen!“ (33 f.)

Die Auferstehung Jesu, sein Leben und die Gottesherrschaft liegen nicht zurück in ferner Vergangenheit. Ostern ist die Quelle. Und aus dieser Quelle entspringt immer neu unser künftiges Leben. Jeder neue Tag, jede Stunde und jedes unserer Jahre schöpfen daraus ihre Leben¬digkeit. Die Antwort auf das Rätsel im Roman entspricht übrigens ganz dem hebräischen Denken. Da liegt nämlich die Zukunft hinter und die Vergangenheit vor uns. Denn das Vergangene steht uns ja vor Augen, wir können es betrachten und daraus unsere Schlüsse ziehen. Die Zukunft dagegen liegt hinter uns, uns im Rücken. Man sieht also in die Vergangenheit, aber wir gehen in die Zukunft mit der Quelle voll Kraft und Segen im Rücken. Der auferstandene Christus ist unsere Zukunft und zugleich der Rückenwind, der uns mutig gehen lässt – nach vorne, gerade dann, wenn uns bang ums Herz ist, wenn wir die Trittsicherheit verloren haben und lieber rasten wollen als weiterzuziehen.
 

4.    Resonanzräume und Religion

Die Beziehung zu Christus verändert und schafft eine neue Realität, einen neuen Raum. Wie aber kann man das noch verstehbar machen?

Der Soziologe Hartmut Rosa hat in den vergangenen Jahren mit seinen Theorien zur Beschleunigung, Entfremdung und Resonanz eine, so finde ich, treffende Zeitanalyse geliefert. Er beschreibt „eine beschleunigte Transformation der materiellen, sozialen und geistigen Welt. Diese Erfahrung der Beschleunigung der uns umgebenden Welt ist in Wahrheit ein ständiger Begleiter des modernen Menschen“. (Rosa, Beschleunigung, 16) In vielen Bereichen erleben wir diese Beschleunigung – in der Arbeitswelt, Kommunikation, dem Kultur- und Freizeitbereich, Moden, Sport, Film, Transport. Durch technische Beschleunigung wie die Nutzung von Transportmitteln schrumpft die Zeit für die Überbrückung von zwei Orten. Mit Hermann Lübbe beschreibt Rosa im Bereich des sozialen Wandels eine „Gegenwartsschrumpfung“. Als Vergangenheit wird verstanden, was nicht mehr gilt, als Zukunft, was noch nicht gilt, und als Gegenwart der Raum, in dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zusammenfallen. Und das betrifft ebenso das eigene Lebenstempo: „Die vielleicht dringlichste und erstaunlichste Facette der sozialen Beschleunigung ist die spektakuläre und epidemische ‚Zeitknappheit‘ moderner (westlicher) Gesellschaften.“ (Rosa, Entfremdung, 26) Es geht um den Eindruck, dass einem die Zeit wegläuft, man nie genug Zeit zu haben scheint und die Wahrnehmung, dass irgendwie mehr in weniger Zeit geschieht. Dabei, so Rosa, ist die Beschleunigung ein Ersatz für eine (religiöse) Verheißung eines ewigen Lebens. Ein gutes Leben ist dann ein Leben, das reich an Erfahrungen und an ausgeschöpften Möglichkeiten ist und braucht kein „höheres Leben“, keine Hoffnung auf Ewigkeit. Zugleich jedoch liegt die Tragik des modernen Menschen darin, dass nicht alles, was die Welt bietet, in einer Lebenszeit erfahren werden kann. „Während sich Individuen nämlich einerseits als vollkommen frei wahrnehmen, fühlen sie sich andererseits um so stärker beherrscht von einer stetig zunehmenden Liste von sozialen Anforderungen.“ (Rosa, Entfremdung, 109) Dies äußert sich z. B. in einer „Rhetorik des Müssens“: Ich muss weiterarbeiten, ich muss mich mehr bewegen. Am Ende des Tages kann es so leicht zu Schuldgefühlen kommen, etwas nicht gemacht zu haben in der zur Verfügung stehenden Zeit; ein Gefühl, die Zeit nicht genutzt zu haben.(1) 

Das Phänomen der Gegenwartsschrumpfung braucht Resonanzerfahrung und Räume hierfür, wo ein „In-Beziehung-Treten“ geschieht. Hartmut Rosa beschreibt das so: „Jedenfalls brauche ich zunächst eine bestimmte Haltung, und die Haltung garantiert mir noch nicht, dass es dann tatsächlich zu Resonanz kommt. Ich brauche dafür auch die entsprechenden sozialen und materialen Räume. Meine Behauptung ist, dass Religion tatsächlich über eben jene Räume verfügt, oder zumindest: dass sie im Kern darauf abzielt, solche Räume bereitzustellen. Sie verfügt über die Elemente, die uns daran erinnern können, dass eine andere Weltbeziehung als die steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung zielende möglich ist. Angefangen beim Zeitkonzept, denken Sie nur an Lieder wie ‚Meine Zeit steht in deinen Händen‘ oder an das Kirchenjahr. Dazu hat mein Vater immer gesagt: ‚Es ist total langweilig, da passiert ja nix, jedes Jahr das Gleiche, seit 2000 Jahren.‘ Ich würde entgegnen: ‚Das ist genau der Punkt! Keine Innovation, keine Steigerung, kein Wachstum!‘ Das ist eine andere Konzeption von Zeit als unser Konzept von Zeit als ökonomischer Ressource, die wir da haben.

Auch das Raumkonzept ist ein anderes: Wenn Sie in eine Kirche gehen, gibt es dort nichts, was Sie sozusagen verfügbar machen können, was Sie unter Kontrolle bringen oder dominieren können. Der Aggressionsmodus findet da gar kein Ziel. Gut, außer natürlich, Sie sind Kirchenhasser und würden gerne das Kreuz von der Wand reißen, das gibt’s natürlich auch. Aber Leute, die nicht in so einer Absicht dort hineingehen, die geraten in einen räumlichen Kontext, in dem die Aggressionshaltung für einen Moment verschwindet. Aber der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, dass das gesamte religiöse Denken, die ganze Tradition, die besten religiösen Deutungen auf die Idee und Vergegenwärtigung von Resonanzverhältnissen hin angelegt sind.“(Rosa, Demokratie braucht Religion, 67 f.)

Ja, Resonanz, wörtlich eine Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Systemen, das finde ich ein sehr passendes Bild für das Reich Gottes, das mitten unter uns ist.


Fußnote:

(1) „Die Kirchen werden bekanntlich seit Jahrzehnten (und oft zu Recht) beschuldigt, Gläubigen intensive Schuld- und Schamgefühle einzuimpfen („mea culpa, mea maxima culpa“). Allerdings haben sie auch Hoffnung und Erlösung versprochen: Denn einerseits erklärten sie das Schuldigwerden zu einer anthropologischen Grundtatsache und milderten so den Aspekt des persönlichen Versagens im Moment der Schwäche. Und andererseits starb Jesus Christus für unsere Sünden: Wir mögen Sünder sein, aber es gibt Hoffnung. Darüber hinaus erinnert uns Max Weber daran, dass die katholische Kirche ihrer Herde mit dem System der Beichte und der Vergebung zumindest Instrumente zur Befreiung von Schuldgefühlen angeboten hat. In der modernen Gesellschaft gibt es keine solche Entlastung: Sie produziert schuldige Subjekte ohne jegliche Aussicht auf Nachsicht oder Vergebung. Wir alle müssen den Preis für unsere Unzulänglichkeiten selbst zahlen […]“: Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, 110 f.).


Literatur:

  • Bischof Bätzing, Georg: Predigt zum Ostersonntag (9. April 2023): https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2023/2023-066a-Predigt-Bi.-Baetzing-Osterhochamt.pdf
  • Balthasar, Hans Urs von: Zuerst Gottes Reich, Johannes Verlag Einsiedeln (Freiburg 2002)
  • Böttigheimer, Christoph: Die Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Verlorene Mitte des christlichen Glaubens, Herder (Freiburg/Basel/Wien 2020)
  • Boron, François: Das Evangelium nach Lukas, 3. Teilband, EKK (Neukirchen 2001), 158 ff.
  • Cognetti, Paolo: Acht Berge. Roman. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt (München 2017)
  • Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit, 22. Auflage, Rowohlt (Reinbek 2003)
  • Kremer, Jakob: Lukasevangelium, NEB (Würzburg 1988), 171 ff.
  • Lohfink, Gerhard: Die wichtigsten Worte Jesu, Herder (Freiburg/Basel/Wien 2022)
  • Lohfink, Gerhard: Ausgespannt zwischen Himmel und Erde. Große Bibeltexte neu erkundet, Herder (Freiburg/Basel/Wien 2021)
  • Rosa, Hartmut: Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis, Kösel-Verlag (München 2022)
  • Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Suhrkamp (Berlin 2013)

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