| Pressemeldung

Leben in der Illegalität in Deutschland - eine humanitäre und pastorale Herausforderung

Statement von Karl Kardinal Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Die Kirche ist berufen, sich über den Raum ihrer Pfarrgemeinden hinaus für Menschen zu engagieren, die in Not sind. Diese sind aus biblischer Sicht die ersten Adressaten der Botschaft vom ganzheitlichen Heil des Menschen, das auch seine konkreten Lebensbedingungen umfasst. Sie sind deshalb nicht außerhalb der Kirche, sondern stellen den Innenbereich christlicher Gottesbegegnung dar. Jesus Christus identifiziert sich mit ausgegrenzten und vergessenen Menschen so weit, dass er sagen kann: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).
Der kirchliche Seelsorgeauftrag beinhaltet die ganzheitliche Sorge um das Heil des Menschen in seiner leiblichen und seelischen Existenz. Die Kirche hat den Auftrag, für die grundlegenden Menschenrechte aller Menschen einzutreten und die Menschenrechte gerade in gefährdeten Situationen anzumahnen. Gleichzeitig müht sie sich darum, den Menschen das Heil in seiner ganzheitlichen Vollendung zu verkünden und zu vermitteln. Sie geht damit über eine reine Menschenrechtspolitik hinaus.
Wenn die Kirche die grundlegenden Menschenrechte auch von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht und Duldung anmahnt, stellt sie deshalb nicht die Grundlagen des Gemeinwesens in Frage. Sie erinnert vielmehr an die Maßstäbe, die für den inneren Zusammenhalt notwendig und gültig sind und sie wirkt so durch ihre kritisch-konstruktiven Äußerungen im Sinne des Gemeinwohls und loyal gegenüber dem Gemeinwesen.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass unabhängig von allen notwendigen und berechtigten gesetzlichen und politischen Bemühungen des Staates, Illegalität zu begrenzen, für die Verantwortlichen die Verpflichtung besteht, allen hier lebenden Menschen ihre grundlegenden Menschenrechte zu gewährleisten. In besonderer Weise gehört dazu Folgendes:
Menschen ohne Aufenthaltsrecht und Duldung müssen ein auch praktisch durchsetzbares Recht auf Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem und zur medizinischen Versorgung haben. Dies folgt aus den Menschenrechten des Artikel 2 Abs. 2 der deutschen Verfassung, wonach "jeder", also alle Menschen, "das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" hat. "Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde." Zur "körperlichen Unversehrtheit" gehören das Freisein von Schmerzen und das Freisein von Verletzungen der körperlichen Gesundheit soweit dies durch medizinische Hilfe möglich ist. Der Schutz der menschlichen Gesundheit ist als ein Teil des Lebensschutzes eine Pflicht des Staates, die sich aus der Garantie der Menschenwürde ergibt. Aus diesem Menschen- und Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergibt sich eine objektiv-rechtliche Schutzpflicht des Staates.Ebenso ist minderjährigen Kindern, die von der Fluchtsituation ihrer Eltern mitbetroffen, hierfür aber nicht verantwortlich sind, der Kindergarten- und Schulbesuch an staatlichen Schulen zu ermöglichen; Datenübermittlungen dürfen dem nicht im Wege stehen. Dies ergibt sich aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 des Grundgesetzes. Gemäß Artikel 2 Abs. 1 GG hat "jeder" das "Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit", und nach Artikel 1 Abs. 1 GG ist die Würde des "Menschen" unverletzlich. "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Aus Verantwortung für die Zukunft der Kinder dürfen diesen aus ethischen Gründen Bildung und Ausbildung nicht versagt werden, da dies die zukünftigen Lebensmöglichkeiten der Kinder entscheidend beeinträchtigen würde.Auch Menschen ohne Aufenthaltsrecht und Duldung haben einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, d. h. vorrangig Gewährung von Obdach und Verpflegung. Dies ist aus dem Menschenrecht des Artikel 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip zu folgern. Auch dieses Menschenrecht darf nicht durch Datenübermittlungspflichten außer Kraft gesetzt werden.Schließlich muss auch wirksamer Rechtsschutz in den Fällen vorenthaltenen Lohns gewährleistet sein. Nach Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat "jeder Mensch (...) Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz"; gemäß Artikel 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten hat "jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche (...) von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren (...) verhandelt wird." Dem entspricht das Gebot der Rechtsschutzgewährung nach Artikel 20 der deutschen Verfassung.
Ziel jeglicher kirchlichen Hilfe für Menschen ohne Aufenthaltsrecht und Duldung muss es sein, Möglichkeiten einer Legalisierung der betreffenden Personen zu finden, es sei denn, Rückkehr in die Heimat oder Weiterwanderung in einen anderen Staat, der ein Aufenthaltsrecht gewährt, ist möglich. Die Kirche will und darf nicht zur Stabilisierung von Illegalität in der Gesellschaft beitragen.
Nach Artikel 61 ff. des EG-Vertrags soll der Europäische Rat gemeinsame Regelungen im Bereich der Zulassung von Drittstaatsangehörigen und ihrer Rechtsstellung in diesem Verfahren beschließen. Vor diesem Hintergrund ist es von Bedeutung, welche Legalisierungsmaßnahmen schon in anderen EU-Staaten ergriffen wurden.
Weitgehende Legalisierungsprogramme können Sogwirkung entfalten. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Legalisierungen in wenigen EU-Staaten oder nur eines EU-Staates Migrationen innerhalb der EU auslösen können, erst recht, wenn die Voraussetzungen der Legalisierung sehr unterschiedlich sind. Im Zuge der EU-Harmonisierung sind nationale Alleingänge zu vermeiden. Vielmehr sollten gemeinsame Lösungen der Europäischen Union, auch mit den Herkunftsländern erarbeitet und umgesetzt werden. Nur ein koordiniertes und abgestimmtes Verhalten kann hier mittel- und langfristig helfen.
Auf jeden Fall muss angestrebt werden, in der Bevölkerung eine Akzeptanz für Legalisierungsmaßnahmen zu erreichen. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und verbreiteter kultureller Ängste ist dies eine gesamtgesellschaftlich anspruchsvolle Aufgabe.
Die vorliegende Erklärung der Kommission für Migrationsfragen (XIV) der Deutschen Bischofskonferenz wendet sich an die kirchliche und außerkirchliche Öffentlichkeit mit dem Anliegen, dass hinter den geschätzten Zahlen in dieser unheilvollen Grauzone die Menschen wahrgenommen werden, mit ihrer je einmaligen Geschichte und auch mit ihrem je einmaligen Schicksal. Sie bietet keine einfachen Lösungen an, zumal das Problem der Illegalität vielfältig mit der geltenden Gesetzesordnung verbunden ist. Sie fordert aber alle Verantwortlichen in der Politik auf kommunaler, Landes- und Bundesebene dringend auf, Lösungen zu suchen, die den betroffenen Menschen mehr gerecht werden. Den Mitgliedern der Kommission danke ich, dass sie sich dieser schwierigen und wichtigen Aufgabe schon seit längerer Zeit annehmen und jetzt durch diese Erklärung eine stärkere öffentliche Beachtung einfordern. Diese Erklärung soll auch eine Ermutigung für diejenigen sein, die sich der Menschen, die in der Illegalität leben, annehmen. Vieles geschieht im Verborgenen, an einer Nahtstelle zwischen dem Recht des Staates und der Hilfe für die Ärmsten der Armen. Das bringt große Belastungen mit sich. Deshalb allen, die sich dieser Mitmenschen annehmen, ein herzliches Vergelt's Gott.

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